Stellungnahme Hometreatment

 

Ergebnispapier der AG „Hometreatment“
des Bundesnetzwerkes Selbsthilfe seelische Gesundheit - NetzG

 

Grundsätzliches

Unter Hometreatment verstehen die Unterstützer dieser Stellungnahme eine stationsäquivalente Akutbehandlung psychischer Erkrankungen, die im häuslichen bzw. sozialen Umfeld mit multiprofessionellen Behandlungsteams durchgeführt wird. Finanzierung über SGB V.

Stationsäquivalente Akutbehandlung bedarf eines grundsätzlichen Strukturwandels innerhalb der Klinik. Es muss sektorenübergreifend gearbeitet werden und andere psychiatrische Hilfen wie niedergelassene Psychiater und psychosoziale Anbieter müssen eingebunden werden.

Die unterschiedlichen Angebote der Klinik müssen individuell, personenzentriert und flexibel arbeiten und aufeinander abgestimmt sein. Langfristig müssen die mobilen, multiprofessionellen Behandlungsteams Kern der Klinikleistungen werden. Dadurch können Bettenkapazitäten deutlich abgebaut und die Grenze zwischen ambulant und stationär aufgelöst werden.

Stationsäquivalente Akutbehandlung beinhaltet eine integrative, bedürfnisorientierte, vernetzte Sichtweise von Psychiatrie. Diese Form der Behandlung ist eher eine innere Haltung des Personals, der Klinikleitung und anderen Helfenden als nur ein zusätzlicher Baustein im Behandlungsangebot der Klinik.

An dieser Stelle verweisen wir auf das Eckpunktepapier der Regierungsfraktionen vom 18.2.2016, die für ein neues Gesetz zur Vergütung und Versorgung (PsychVVG) stationsäquivalente Akutbehandlung empfehlen. Darüber hinaus weisen wir darauf hin, dass nach der S3-Leiltinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ bei stationsäquivalenter Akutbehandlung der Rückgang der stationären Aufnahmen und Wiederaufnahmen, der stationärer Behandlungszeiten und der Behandlungsabbrüche nachgewiesen ist. Die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen und die Kosteneffektivität nehmen zu.

Es muss dringend berücksichtigt werden, dass stationäre Behandlung nur sinnvoll ist, wenn ambulante Hilfsangebote nicht wirksam sind. Auch ist darauf hinzuweisen, dass stationsäquivalente Akutbehandlung nicht in derselben Weise wie stationäre Behandlung verläuft, das heisst sie kann weniger intensiv und seltener durchgeführt werden. Sie hat ihr eigenes Setting.

 

Forderungskatalog Stationsäquivalente Akutbehandlung

1. Soziales Umfeld einbeziehen

Das soziale Umfeld der Patientinnen und Patienten muss bei der Behandlung eingebunden werden. Zum Beispiel Angehörige, Freunde oder Nachbarschaft sind hilfreiche Ressourcen für die Unterstützung des psychisch erkrankten Menschen. Fallkonferenzen bzw. Netzwerkgespräche müssen verpflichtend stattfinden. So können die Patientin und der Patient weitergehend wahrgenommen und verstanden werden, als in der stationären Behandlung. Zudem kann er in seinem gewohnten Umfeld verbleiben und selbstbestimmter leben.

Stationsäquivalente Akutbehandlung findet nicht nur in der Wohnung der Patientin und des Patienten statt, sondern integriert sein gesamtes soziales Umfeld.

Es darf nicht grundsätzlich von dem üblichen Häuslichkeitsbegriff ausgegangen werden, denn stationsäquivalente Akutbehandlung ist auch in Wohnungslosenunterkünften, Wohnungen von Freunden oder ungewöhnlichen Wohnformen wie zum Beispiel Bauwagen und Zelten durchführbar und kann auch zu Teilen in der Klinik stattfinden. Darüber hinaus muss stationsäquivalente Akutbehandlung in Wohnheimen für psychisch erkrankte Menschen möglich sein. Auch deren Bewohner haben in akuten Krankheitsphasen ein Anrecht auf diese Form der Behandlung.

2. Nach der Krise

Dem Patienten sollten - wenn nötig - nach der Krise anschliessende Hilfsangebote empfohlen werden. Ziel ist es, die Behandlung baldmöglichst zu beenden. Die Behandlungsdauer muss allerdings flexibel und individuell gehandhabt werden können. Festgelegte Behandlungsdauern sind dem Krisengeschehen nicht angemessen. Die Krisendauer ist nicht vorhersagbar.

3. Vernetzung

Stationsäquivalente Akutbehandlung muss ein vernetztes Angebot und im Gemeinde-psychiatrischen Verbund integriert sein.

Verfügbare psychiatrische und psychosoziale Hilfen wie zum Beispiel Sozialpsychiatrischer Dienst, niedergelassene Psychiaterinnen und Psychiater, Ambulante Psychiatrische Pflege, Beratungsstellen sollten in Anspruch genommen werden können. Auch nichtpsychiatrische Hilfen, wie zum Beispiel Seelsorger, Vereine, Kirchengemeinde oder Nachbarschaftshilfe sollten berücksichtigt werden.

Die therapeutischen Angebote der Klinik, wie zum Beispiel Ergotherapie, Tonfeldtherapie oder Musik- und Kunsttherapie müssen für die Patientinnen und -Patienten nutzbar sein. Ebenso muss es möglich sein, dass diese psychotherapeutischen Angebote und Sport- und Bewegungstherapien nutzen können.

Ziel muss es sein, eine Beziehungskontinuität zwischen Behandelnden und Patientinnen und Patienten zu erreichen, sodass Beziehungsabbrüche weit möglichst vermieden werden.

4. Erreichbarkeit

Das Behandlungsteam muss zwingend jeden Tag 24h erreichbar sein. Dies gilt es gesetzlich zu verankern und vom Anbieter zu gewährleisten. Das Personal muss auch über Notdienste und Polizei kontaktiert werden können.

5. Peers

EX-IN-Genesungsbegleiterinnen und -begleiter (Peers) müssen, wenn verfügbar, Mitarbeitende des Behandlungsteams sein. Deren Erfahrungswissen ist ein unverzichtbarer Beitrag für eine gute Behandlungsqualität. Der Kontakt zur organisierten Selbsthilfe Psychiatrieerfahrenen wird empfohlen. Zudem ist es notwendig, dass Psychiatrieerfahrene an den Prozessen und Entscheidungen in der Psychiatrie beteiligt werden. Dieses Potential gilt es für die Weiterentwicklung des Systems zu nutzen.

6. Stationsäquivalente Akutbehandlung als Teil der Regelversorgung

Stationsäquivalente Akutbehandlung muss Teil der Regelversorgung sein und somit unabhängig davon, in welcher Krankenkasse der Patient versichert ist.

7. Akutsprechstunden bzw. Vorschaltambulanzen

Um frühzeitig den Schweregrad der Erkrankung zu erkennen und die richtigen Massnahmen einzuleiten, sollte sogenannten Akutsprechstunden bzw. Vorschaltambulanzen vorhanden sein. Dies kann unnötige Klinikeinweisungen vermeiden. Sie sind gekennzeichnet durch niederschwelligen Zugang mit schneller Terminvergabe.

8. Case Management bzw. koordinierende Bezugsperson

Von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Behandlung ist die Existenz eines Case Managers bzw. einer koordinierenden Bezugsperson, die den Patienten durch das gesamte Behandlungs- bzw. Betreuungsgeschehen begleiten. Besonders wichtig ist es hier Unabhängigkeit dieser Person herzustellen. Die unabhängige Beratung, die im Bundesteilhabegesetz vorgesehen ist, könnte hier einen Beitrag leisten und Fürsprache sicherstellen.

9. Psychopharmaka

Stationsäquivalente Akutbehandlung zeichnet sich durch den zurückhaltenden Gebrauch von Psychopharmaka aus, damit der Patient nicht aus seinen bisherigen Bezügen herausgerissen und so wenig wie möglich geschädigt wird. Dies kann u.a. die Mitwirkungsbereitschaft der Patienten erhöhen.

10. Beziehung Patient-Behandler

Die Beziehung zwischen Behandlern und Patientinnen und Patienten ist auf Augenhöhe, das heisst es findet keine Bevormundung statt und Entscheidungen werden partizipativ getroffen. Es gilt die Regel „verhandeln statt behandeln“. Der Umgang ist personenzentriert und nicht institutionenzentriert und den Bedürfnissen des Patienten angepasst. Die Fachkräfte verstehen sich als Gäste in den Räumen des Patienten. Zwang ist nicht zulässig. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, ist ein zentraler Aspekt der Behandlung.

Ergänzend sei anzumerken, dass Behandlungsvereinbarungen, die zwischen Ärzten und Patientinnen und Patienten abgeschlossen werden, ein wichtiges und wirksames Instrument zur Qualitätssteigerung der Behandlung sind.

Die Arbeitsgruppe Hometreatment/Krisendienste-NetzG im Juni 2016

Cornelia Brummer, Kassel (Deutsche Gesellschaft für bipolare Störungen e.V.)
Horst Harich, Bad Sachsa (Deutsche Gesellschaft für bipolare Störungen e.V.)
Rainer Höflacher, Teningen (LV Psychiatrie-Erfahrener BW e.V.)
Edith Mayer, Offenbach (LV Hessen der Angehörigen psychisch Kranker e.V.)
Rainer Schaff, Konstanz (LV Psychiatrie-Erfahrener BW e.V.)
Michael Theune, Weinsberg (Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege e.V.)
Hans-Jürgen Wittek, Wiesbaden (LV Psychiatrie-Erfahrener RLP e.V.)