Stellungnahme

 

von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“ vom 16. Dezember 2016 (§§ 1901, 1906 BGB etc.)

 

Wir, das Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit, haben über die Aktion Psychisch Kranke den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten“ erhalten.

Wer sind wir?

Das Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG) hat sich anlässlich der Tagung „Recovery und Selbsthilfe“ am 9.11.2016 gegründet. Die 30 Gründungsmitglieder kamen aus der Selbsthilfe der „Psychiatrie Erfahrenen“, unter anderem aus dem Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.  (www.lvpe-rlp.de) und dem Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e.V.  (www.lvpebw.de). Der LVPE RLP e.V. hat schon 2012 in einer Sonderausgabe des Leuchtfeuers 10 Beiträge zu „Zwang und Gewalt“ lvpe-rlp.de/sonderheft-leuchtfeuer zusammengestellt und als Broschüre herausgebracht. Somit liegen im NetzG nachhaltige Erfahrungen zum Themenbereich vor.

Nun zu Ihrem Entwurf:

Ausgangslage

Der Grund für die geplante Gesetzesänderung war der Fall einer psychischen erkrankten Frau, die laut BGH nicht untergebracht werden konnte, weil sie schwer an Brustkrebs erkrankt und nicht mehr mobil war. Sie konnte aufgrund ihrer psychischen Störung keine freien Entscheidungen treffen und lehnte mit ihrem natürlichen Willen die Medikamenteneinnahme ab, die zu einer deutlichen Erhöhung ihre Überlebenschancen geführt hätte. Die bisherige Gestzeslagegestattet eine Heilbehandlung gegen den Willen nur, wenn eine gesetzliche Unterbringung vorliegt. Das BVerfG entschied sich nun für eine Zwangsbehandlung, obwohl sie sich dem Behandlungsort nicht entziehen könne bzw. wolle und dadurch kein Grund für eine Unterbringung vorläge. Dem Gesetzgeber erlegte das BVerfG auf, eine Regelung zu treffen, die Zwangsbehandlung in solchen seltenen Fällen ermöglicht.

Dieses Problem will nun der Gesetzgeber durch die Entkopplung von Unterbringung und Zwangsbehandlung beheben und erlauben, das Zwangsbehandlungen auch im somatischen Krankenhäusern möglich wird. 

Stellungnahme des Bundesnetzwerkes Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG) 

Wir sind der Überzeugung, dass Zwangsbehandlung auch weiterhin ausschließlich bei Vorliegen einer gesetzlichen Unterbringung abhängen sollte. Wenn eine Person auch ohne gesetzliche Unterbringung zwangsbehandelt werden darf, ist diese Zwangsbehandlung nicht mehr das „letzte Mittel“, denn es besteht eine große Chance, dass die Zwangsbehandlung durch die Durchführung einer Unterbringung verhindert werden kann. Zudem ermöglicht die richterliche Abwägung, ob ein Unterbringungsgrund vorliegt eine weitere, zusätzliche Sicherung gegen eine fehlerhafte Entscheidung für eine Zwangsbehandlung. Aus Berichten von Patientinnen und Patienten folgern wir, dass es leider immer noch äußerst fragwürdig begründete Zwangsbehandlungen gibt. Die richterliche Entscheidung für oder gegen eine Unterbringung darf unseres Erachtens, nur bei Vorliegen der Selbstbestimmungsunfähigkeit und einer drohenden schweren gesundheitlichen Gefährdung abhängig sein, nicht von der Unfähigkeit sich dem Behandlungsort entziehen zu können bzw. zu wollen. 

Besonders wichtig ist es für uns darauf hinzuweisen, dass es grundsätzlich gesetzlich möglich sein muss, dass sich rechtlich untergebrachte Personen auch auf offenen Stationen aufhalten dürfen. Erfahrungen zeigen, dass dadurch sich der Patientinnen und Patienten nicht häufiger der Unterbringung entziehen und vertrauensvolle therapeutische Beziehungen deutlich besser aufrechterhalten werden können, was zu einer insgesamten Verbesserung des Gesundheitszustandes der Betroffenen führt. Zudem sind gewalttätige (traumatisierende) Handlungen auf offenen Stationen viel seltener. Der Aufenthalt von gesetzlich untergebrachten Personen auf offenen Stationen, ist ein menschliches Zugeständnis, dass sich fachlich gut begründen und nachvollziehen lässt. 

Wir begrüßen, dass die Betreuerinnen und Betreuer nun angewiesen sind, den Willen der Betreuten und des Betreuten bezüglich Behandlungen gegen den Willen stärker zu berücksichtigen und schriftlich festzuhalten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob bestellte gesetzliche Betreuer dies in der Praxis auch so umsetzen. Wir werden in unserem Praxisfeld immer wieder darauf hingewiesen, dass Betreuerinnen und Betreuer ihren gesetzlich auferlegten Aufgaben aus unterschiedlichen Gründen zum Teil gar nicht nachkommen (können). Zudem weisen wir darauf hin, dass auch neben dem natürlichen Willen der mutmaßliche Wille gesetzlich relevant ist, was im Behandlungsalltag nach unserer Erfahrung jedoch nicht berücksichtigt wird.

Menschen, die sich im einwilligungsfähigen Zustand gegen eine rechtliche Unterbringung entscheiden oder entschieden haben, sollten auch nicht rechtlich untergebracht werden.

Hier gilt, wie im somatischen Bereich, das Grundrecht auf Selbstbestimmung des Individuums vor der Schutzpflicht des Staates. 

§ 1901a (4) „Der Betreuer muss (statt soll) den entscheidungsfähigen Betreuten  auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinweisen und ihn auf dessen Wunsch bei der Errichtung einer Patientenverfügung unterstützen“

Dies als unser Vorschlag des § 1901a (4)

In der Psychiatrie gibt es die Möglichkeit eine Patientenverfügung und eine Behandlungsvereinbarung zu unterschreiben. Probleme: Ein Betreuter kann ohne Zustimmung des gesetzlichen Betreuers keine rechtsgültige Patientenverfügung unterschreiben, wenn für alle Bereiche eine Betreuung (mit Einwilligungsvorbehalt) besteht.

Weiterhin hat sich in der Praxis wiederholt erwiesen, dass gesetzliche Betreuer die Verfügung des Betreuten verhindern, wenn Mehrarbeit durch die Patientenverfügung entstehen könnte.

In der Psychiatrie gibt es seit den 90er Jahren eine Behandlungsvereinbarung. Diese Vereinbarung wird zwischen der behandelnden Klinik und dem „Psychiatrie-Erfahrenen“ abgeschlossen. Diese Vereinbarung gilt jedoch nur für diese Klinik (= Vertragsrecht). Andere Kliniken sind nicht an Behandlungsvereinbarung gebunden und oftmals werden Patienten auch unterschiedlich diagnostiziert, was einer allgemeingültigen Vereinbarung entgegensteht.

In der Selbsthilfe existieren mehrere, völlig unabgestimmte und kritisch zu bewertende Entwürfe von Patientenverfügungen. Hier wäre es von Vorteil, wenn beteiligte Bundesministerien gemeinsam mit den Betroffenenverbänden eine Musterpatientenverfügung erarbeiten und veröffentlichen würden.

 

§ 1906a (2) „der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann“

Hier besteht das Problem, dass sich hier zwei Heuristiken der Erklärungen von psychischen Krankheiten überschneiden. Sprechen wir von Behinderung besteht die Gefahr, dass von einem binären System ausgegangen wird (entweder immer Gesund oder immer Behindert). Bei einer Krankheit sprechen wir von einem kybernetischen System (der Erkrankte kann durch Maßnahmen wieder Gesunden). Dieses Problem wurde wiederholt thematisiert, zuletzt von Professor Fuchs bei der DGPPN Tagung 2016 in Berlin in seinem Beitrag „Zwischen Psyche und Gehirn - Zur Standortbestimmung der Psychiatrie“.

§ 1906a (7) „die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.“

Hier verweisen wir kritisch auf die eine einseitige Praxis der medizinischen Versorgung: Die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern wird häufig ausschließlich durch die Einnahme von Psychopharmaka definiert. Wer keine Psychopharmaka einnimmt wird oft entlassen und erhält keine weitere Behandlung. Auch die Nachbehandlung, wird oftmals nur durch die kontrollierte Einnahme der Psychopharmaka begründet (Kontrolle der Ausgabe und Einnahme der Psychopharmaka in den Nachsorgeeinrichtungen). Alternative, erwiesenermaßen wirksame therapeutische Maßnahmen bleiben völlig außen vor – werden nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt.

Artikel 2

Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit hier:

§ 317 Absatz 1 „Bei der Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme oder deren Anordnung ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers stets erforderlich“

In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass es in der Praxis viele Betreuer gibt deren Qualifizierung völlig unzureichend ist, um eine so weitreichende, in die Persönlichkeitsrechte eingreifende Maßnahme zu beurteilen bzw. zu begleiten. Erarbeitung und Anwendung von Ausbildungs- Qualifizierungs- und (Mindest-)Qualitätsstandards für Verfahrenspfleger und gesetzliche Betreuer sind unseres Erachtens dringend erforderlich, um im Sinne des Gesetzes sowohl ökonomisch verantwortbar als auch menschenwürdig zu handeln.  

Artikel 7

Evaluierung

Wir brauchen zur „qualifizierten“ Evaluierung qualifizierte Peers.

Hierzu folgendes:

Die gegenwärtige qualitative und quantitative Informationsermittlung bei psychisch erkrankten Menschen erfolgt durch das Befragen der erkrankten Menschen und/oder durch das Befragen des Betrachters – z. B. Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Angehörigen, Arzt, Psychologen usw. Bei der Betrachtung der Evaluation ist nicht nur die Problematik der vollständigen Beschreibung der Strukturen zu beleuchten, sondern auch die emotionale - gefühlte Ebene der Betreuten ist zwingend miteinzubeziehen.

Um vielfach die Betreuten verstehen zu können, ist es notwendig, die psychische Erkrankung zu verstehen und nachzuvollziehen. Das Problem ist: Psychische Erkrankungen sind bio-psycho-soziale Erkrankungen, die häufig weder optisch, akustisch, mechanisch oder sonst wie überprüfbar oder erkennbar sind. Das Erkennen beispielsweise einer manischen oder depressiven Verfassung des Psychiatrie-Erfahrenen ist jedoch wesentlich, um eine Bewertung der Prozess- und Ergebnisqualität durchführen zu können.

Für die Auswertung der Daten über die Betreuten ist das Verhältnis der Umwelt zu den Betreuten zu verstehen. Von den Betreuten wird einseitige Compliance verlangt, ohne dass die Kommunikationsstruktur eine Berücksichtigung findet. Eine umfangreiche differenzierte individuelle Problem- und Situationsbeschreibung ist unabdingbar.  Entsprechend ist dann eine Adherence gegeben, wenn soziale Ausgrenzung, Misstrauen, Verachtung, Abhängigkeit und Unsicherheit in der Umsetzung der Aussagen berücksichtigt werden. Nur so kann die Veranlassung der Belegung hinterfragt werden. Dann kann Inhalts-, Kriteriums- noch Konstruktvalidität erreicht werden, da nur dann die Informationen authentisch und ehrlich sind.

Aus unserer Sicht ist es unabdingbar die Evaluation durch (nach Möglichkeit sozialversicherungspflichtige) Mitarbeit von Peers sicherzustellen.

Beispielsweise analysiert die Automobilindustrie ihre technischen Probleme der Produktion nicht durch Philosophen oder Pädagogen, sondern hauptsächlich durch die Mitarbeit von Ingenieuren und Kaufleute.

Unser Fazit:

Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Grundrechts auf Selbstbestimmung von Betreuten sowie die unterschiedlichsten PsychKG und Maßregelvollzugsgesetze der Länder machen die Gesamtsituation für die Betroffenen völlig undurchschaubar und kompliziert.

Wir wünschen uns eine „Task Force“, die alle Bundes- und Landesgesetze für psychisch kranke Menschen beleuchtet, auf der Basis der Behindertenrechtskonvention der UN bewertet, eine verlässliche Kontinuität in den Gesetzen formuliert und  abgestimmte, praxisnahe und verständliche Lösungen präsentiert.

Grundsätzlich sind wir von Seiten des Bundesnetzwerks Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG) bereit daran mitzuarbeiten und unsere Erfahrungen und unser praktisches Fachwissen einzubringen. Auch von Seiten des Gesetzgebers sollte für dieses Vorhaben die verantwortliche und entlohnte Mitwirkung von Peer grundsätzlich und selbstverständlich möglich und vorbereitet sein.

gez.

Franz-Josef Wagner
1. Vorsitzender

Rainer Höflacher
2. Vorsitzender